„Die europäische Idee ist mit das Wertvollste, was dieser Kontinent je geschaffen hat, weil die europäische Identität aus unserem kulturellen und regionalen Reichtum schöpft, weil die europäische Einigung sich aus Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit speist. Deshalb trotz viel berechtigter Kritik im Detail: Geht proeuropäisch wählen!“ Diese Erklärung könnte reichen.
Eigentlich müssten wir jeglicher Europa-Erklärung die Europahymne vorweg schicken, weil die europäische Einigung und die europäische Fragen zutiefst emotionale Seite haben.
Ganz ohne Emotionen werden Aufrufe & Appelle entscheidende Zielgruppen vielleicht nicht erreichen. Beethovens letzte Sinfonie in d-Moll, das Hauptthema des letzten Satzes kommt als Hymne des vielsprachigen Europas ganz ohne Worte aus. Was völlig im Sinne des bereits völlig tauben Komponisten ist, hatte Beethoven noch nach der Uraufführung 1824 erwogen, den Schlusschor gegen einen puren Instrumentalsatz auszutauschen.
Europäischer Enthusiasmus ist jetzt wirklich nötig, denn die europäische Einigung ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Das dokumentiert das gestrige Abstimmungsdesaster im House of Commons, dem Unterhaus als entscheidender Parlamentskammer des Vereinigten Königreiches.
Höchstwahrscheinlich werden wir diejenigen nicht erreichen, die in ihren Filterblasen – wie im Goldfischglas – immer im Kreis schwimmen, und – wenn sie über Krümmungen der Banane und Gurke räsonieren -, den Eindruck haben, sie stoßen in unendliche Weiten vor. Versuchen müssen wir es trotzdem.
Ja, richtig: Europa ist das Friedensprojekt. Ist entstanden nach Kapitulation und Befreiung. Hat gelernt aus den moralisch-politischen Katastrophen der beiden Weltkriege. Ältere erinnern sich lebhaft an Bilder, wo (westeuropäische) Grenzbäume friedlich niedergerissen und zersägt wurden. An dieser Stelle erwähnen wir mal nicht den Krieg in Jugoslawien und den Hang Europas, militärisch aufzurüsten und die Grenzen zu schließen.
Aber wie weit trägt diese Rede von dem einzigartigen Friedensprojekt? Was ist mit den jungen Leuten, die nicht einmal die friedliche Revolution erlebt haben und die jetzt wählen dürfen? Na ja, sagt einer, die denken Europa grenzenlos und wahrscheinlich müssen wir sie erinnern, dass die Errungenschaften kein Selbstläufer, keine Selbstverständlichkeit sind. Außerdem seien viele der jüngsten Generation durchaus politischer. Der europäische Diskursraum rockt. Da zettelt eine schwedische Schülerin die FridaysForFuture-Bewegung an. Was in punkto Klimakatastrophe gilt, liefert einen weiteren guten Grund: Im Kontext der Globalisierung sind wir ohne die europäische Einigung verloren.
Europa verorte ich zwischen genial und Wahnsinn. Der große Wurf der EU-DSGVO, hier ist ein Maßstab gesetzt mitten in die beschleunigte Digitalisierung. Wahnsinnig macht mich dieses blinde Vertrauen auf technische Lösungen wie einen Uploadfilter, wenn es darum geht, den Urheberschutz ins 21. Jhdt zu transferieren. Ähnlich wahnwitzig: Das Ungleichgewicht Konzern- und Lobby-Interessen in Brüssel & Strasbourg zu zivilgesellschaftlichen Interventionsmöglichkeiten. Einfach & genial, dass es im Europäischen Parlament ein Lobbyregister gibt, was der groko-dominierte Bundestag nicht zustande bringt.
Ja, es gibt berechtigte Kritik am aktuellen Zustand Europas. Und affirmative Texte machen mir als überzeugtem Unionsbürger Kopfzerbrechen. Ab sofort muss Europa mehr Demokratie wagen, Mitbestimmungsrechte der Unionsbürger*innen stärken und wirkliche Initiativ-, Kontroll- und Budgetrechte ans Europäischen Parlamentes übertragen.
Eine offene Wunde ist der Streit, Flüchtlinge aufzunehmen. Flüchtlinge im Mittelmeer absaufen zu lassen, ist ein moralischer Schiffbruch. Dabei schaue ich nicht nur auf die osteuropäischen Visegrad-Staaten. Ich denke sondern vielmehr an uns – die Bundesrepublik Deutschland – als Profiteurin des zynischen Dublin-Systems. Wie solidarisch waren wir mit Südeuropa? Wie gut und zeichenhaft, dass der Papst als aller erstes Lampedusa besucht hat. In diesem Punkt gibt es weit & breit keine europäische Lösung – Und das bleibt ein übel schmerzender Markel.
Trotzdem wird es entscheidend sein, dass wir proeuropäisch wählen gehen und die Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigen. Nie war die Gefahr so real, dass die proeuropäischen Kräfte im Europäischen Parlament in die Minderheit geraten.
Nein, es ist kein blechernes Wahlkampfgeschwätz, denken wir an die Le Pens, die Brexit-Hardliner, an die italienischen Populisten von der Lega Nord und den Fünf Sternen. An die Victor Orbans, Jarosław Kaczyńskis. Kurze retardierende Bemerkung: Ich habe noch gut in Erinnerung, dass der konservative Klerus in Polen die PiS so richtig groß gemacht hat.
Und wenn hierzulande die AfD’ler mit Hitlergrüßlern, Wutbürger*innen und identitär Bewegten ihre nationalen Ego-Trips einwerfen, ja dann gehen wir proeuropäisch wählen, summen wir die Hymne und rezitieren die Erklärung: „Mit das Wertvollste, was dieser Kontinent je geschaffen hat, ist die europäische Idee.“
Das Foto zeigt einen Wegweiser mitten in Lissabon und macht zwischen Amerika und Russland auf die europäische Dimensionen aufmerksam.