Ein Kommentar von Joe Menze
17. Juni: Da war doch was? Wer erinnert sich nicht an die schwarz-weißen Bilder von aufgebrachten Menschen voller Freiheitswillen? An Personen, die mit Steinwürfen verzweifelt versuchen, Panzer aufzuhalten. Der Volksaufstand gegen die ignorante SED-Parteiführung wird 1953 gewaltsam niedergeschlagen. Im Anschluss beginnt mit der Flucht aus der DDR eine Abstimmung mit den Füßen.
Den heutigen Zustand der katholischen Kirche vergleichen manche mit dem des damals zusammenbrechenden Regimes. 1989 eine Führungsriege alter Männer, längst abstinent von ihren Ursprungsidealen, nur noch auf ihren Machterhalt fixiert und meilenweit entfernt von der Wirklichkeit in ihrem Land.
Natürlich hinken historische Vergleiche, auch dieser. Aber niemand will die eklatante Entfremdung zwischen Bischöfen und den Resten des Volkes Gottes ernsthaft bestreiten wollen. Oder dass in der Gesellschaft Grundsätze wie die der Gleichberechtigung und der Gewaltenteilung gelten und aber in der katholischen Kirche nicht.
Im synodalen Weg spiegelt sich der Streit derjenigen, die auf Dialog setzen und die Zeichen der Zeit erkennen, mit den Verfechtern ewiger Glaubenswahrheiten. Und alle römischen Vorzeichen deuten auf Unverständnis. Da beraumt die Kurie eine Weltsynode an, wo keine Frau mitentscheiden darf.
Spielten bei der friedlichen Revolution in der DDR die Kirchen noch eine substantielle Rolle, allein schon, weil sie Gesprächsräume geöffnet haben, haben die Kirchenleitungen seit der Aufdeckung der Missbrauchsskandale Anfang des letzten Jahrzehnts ziemlich allen moralischen Kredit verspielt. Jedes abgelehnte Rücktrittsangebot bankrottiert noch mehr.
In puncto Missbrauchsgutachten in den Bistümern setzte Aachen mit der WSW-Kanzlei zunächst einen Goldstandard, weil juristisch akribisch der moralische Leitsatz der Betroffenen-Perspektive durchdekliniert und Verantwortliche benannt werden. In Köln diskreditierte dann das rein kirchenrechtlich argumentierende Zweitgutachten den Aufklärungswillen. In München überschattete die Lüge des Papst Ratzingers die Analysen.
Und jetzt in Münster? Bis in die Frühzeit des amtierenden Bischofs Genn, analysieren die fünf Wissenschaftler:innen von der Westfälischen Wilhelms-Universität (Foto), galten Missbrauchsfälle „als ‚Betriebsunfälle‘, die es zu bearbeiten galt, den ‚Betrieb‘ selbst stellte niemand in Frage“. Und für den Normbetrieb gab es in der Kirchenleitung keinerlei Empathie für die Betroffenen, stattdessen eine „Priorisierung des Wohls der Kirche, der Skandalvermeidung, des Schutzes für die Mitbrüder“. Neu an der Studie ist die Ausleuchtung des Umfeldes. Das katholische Milieu verband eine „gemeinsame Schamkultur, die das Offenlegen sexueller Straftaten verhinderte“ und eine nennenswerte „Resilienz gegen Übergriffe“.
Für den heutigen 17. Juni hatte Bischof Dr. Felix Genn zum Pressegespräch über den Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bistum geladen. Seine steile Lernkurve und die Gespräche mit Betroffenen waren dem gut vierzigminütigen Statement von Beginn an anzumerken.
Aufarbeitung und Aufklärung könne nur unabhängig erfolgen. Die stärkste Passage dazu behandelte die Etablierung der Unabhängigen Aufarbeitungskommission, die eben nicht der Bischof beruft. Statt dessen nimmt der Bischof das Angebot sieben hochkarätiger Expert:innen an, die sich selbst organisieren und denen Unterstützung durch das Bistums zugesagt wird.
„Jede Form von Klerikalismus muss ein Ende haben“, erklärte Genn, der beim Synodalen Weg das Forum zur priesterlichen Existenz mitleitet. Überhöhte Priesterbilder seien ein Ausdruck „gänzlich fehlgeleitetem Verständnis von Autorität und Hierarchie … Damit muss Schluss sein.“ Die Studie zu Macht und sexuellem Missbrauch im Bistum Münster konstatiert eine „Rollenüberfrachtung des bischöflichen Amtes“. Deshalb kündigt Genn an, bischöfliche Macht in einer Art freiwilliger Selbstverpflichtung an Entscheidungen diözesaner Gremien zu binden. Mit dieser Erklärung geht Genn einen deutlichen Schritt weiter als die beiden Mitbischöfe und Kardinäle in Köln und München. Einführung kirchlicher Verwaltungsgerichtsbarkeit, mehr Transparenz bei Personalentscheidungen: Das klingt nach konkretem Umsteuern, das – darauf legt der Bischof großen Wert – weit vor der Studie in die Wege geleitet worden ist.
Und die persönliche Verantwortung? Bischof Genn räumt ein, dass er in einigen Situationen entschiedener und klarer hätte agieren müssen. Statt eines Rücktritts möchte er in seiner verbleibenden Bischofszeit – Genn ist 72 – „mit höchstem Engagement weiterhin und verstärkt auf das hören, was Betroffene und unabhängige Gremien mir für den Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bistum Münster empfehlen und versuchen, das umzusetzen.“
Die Journalisten haken nach: Wie könne es sein, dass bistumsleitende Geistliche, die aus der Seelsorge kommen, nicht mehr an die „Schafe“ denken, sondern nur noch mit den „Hirten“ eine Solidarität empfinden? Dies sei unbegreifbar, kommentiert der WDR-Kirchenexperte Theo Dierkes. Eine Antwort bleibt Genn schuldig: Auch er könnte diese Distanz wirklich nicht verstehen, antwortet der Bischof. Ob seine Empathie genügend war, für das unsägliche Leid, vermöge er nicht zu beurteilen. Zusammen mit den Betroffenen werde überlegt, wie auf die schweren Fehler seiner Amtsvorgänger hingewiesen werde. Bis dahin bliebe die Bischofsgruft geschlossen, hatte Genn in seinem Statement ausgeführt. Vorwärtsverteidigung ist die bischöfliche Parole.
Die Journalisten bleiben hartnäckig. Die Öffentlichkeit beobachte, dass sich das System immer wieder selber schütze. Zuletzt die folgenlosen Rücktrittserklärungen, merkt der Chefredakteur des Domradios Ingo Brüggenjürgens an. „Wie steht es darum, dass irgendjemand für die Institution nach jahrzehntelangem Versagen ein sichtbares Signal der Veränderung und Verantwortung setze? Er habe seine Antwort ja gegeben, entgegnet Genn, und versuche im Rahmen seiner Möglichkeiten, Dinge zu verändern. Auf Ebene der Bischofskonferenz gebe es unterschiedliche Interessen. Eine Nachfrage zu Rücktrittüberlegungen wischt Genn später vom Tisch. Sein Seelenleben wolle er nicht offenlegen.
Das Fazit vom 17. Juni?
Ein Aufstand des Volkes wird wohl ausbleiben, dazu ist das Mixtum an Veränderungsprojekten zu vielfältig. Aber es bleibt auch festzuhalten, dass Bischof Genn auf Nachfrage Kleriker mit überhöhten Priesterbild unter anderen Rollen wegsortiert. Wer sich die aktuellen Priesteramtskandidaten vergegenwärtigt, weiß genau, wie rückwärtsgewandt die jüngste Priestergeneration tickt. Damit entwickelt sich das Drama weiter.
Der Münsteraner Bischof setzt auf eine Vorwärtsstrategie. Lapidar streift er gegen Ende seiner Erklärung „schwere Fehler“ seiner Amtsvorgänger Michael Keller, Heinrich Tenhumberg und Reinhard Lettmann. Zuvor hatte er Erkenntnisse der Studie zustimmend zitiert. Eine klare Ich-Botschaft? Fehlanzeige.
Da frage ich mich, wenn Genn sich explizit als „Teil der Organisation, aus der die Täter kamen und kommen“ (sic), warum er keine Verantwortung für das Vertuschung und Kollaborieren seiner Vorläuferbischöfe übernimmt. Ihr menschliches und moralisches Versagen sei für ihn unverständlich. Haken dran und gut? Nur eine Hinweistafel an der Bischofsgruft ist billig und blamabel.
Seine freiwillige Selbstbindung an Beschlüsse diözesaner Räte ist weitgehend nett. In Wirklichkeit klammert sich Genn in seinen restlichen drei Jahren ans Amt als Münsteraner Oberhirte, statt Ernst zu machen mit der Abgabe der Macht. Ist damit zu rechnen, dass sich Diözesanrat, Priesterrat oder Diözesankomitee emanzipieren? Eher nein. Und in drei Jahren heißt es: Neuer Bischof, neues Spiel.
„Der Münsteraner Bischof setzt auf eine Vorwärtsstrategie. Lapidar streift er gegen Ende seiner Erklärung „schwere Fehler“ seiner Amtsvorgänger Michael Keller, Heinrich Tenhumberg und Reinhard Lettmann. Zuvor hatte er Erkenntnisse der Studie zustimmend zitiert. Eine klare Ich-Botschaft? Fehlanzeige.“
Wie kann denn eine „klare Ich-Botschaft“ aussehen?
Immer nur einen Rücktritt zu fordern ist auch keine Hilfe, denn wenn ein Bischof schon einmal so weit ist, „schwere Fehler“ seiner Amtsvorgänger einzugestehen, kann doch darauf aufgebaut werden. Hier das Kind mit dem Bade auszuschütten bringt doch auch nicht viel.
Eine verbindliche Liste von Maßnahmen der Prävention und aktiven Aufarbeitung, inkl. Entschädigungen (und diese bitte aus dem Geldtopf der Kleriker, nicht der Gemeinden) ist das, was ich vermisse –– auf beiden Seiten. Vielleicht gibt es das schon, doch lese ich nur immer von Rücktrittsforderungen. Ich bin froh, dass das Rücktrittsgesuch von Kardinal Marx nicht angenommen wurde. Denn wenn die nächste Generation der zukünftigen Bischöfe, wie beschrieben, noch schlimmer drauf ist, dann macht ein Rücktritt derjenigen, die wenigstens „schwere Fehler“ der Vorgänger eingestehen, keinen Sinn.