Anders auf Afghanistan blicken

Die Situation in Afghanistan wühlt auf. Sehr scharf kommentierte die Neue Züricher Zeitung: „Der Westen kann die Welt nicht retten.“ Ausführlich debattierte der Bundestag in der letzten Woche die Lage und legitimierte mit großer Mehrheit eine Rettungsmission. „In den 20 Jahren wurde auch die Saat der Freiheit gesät. Daraus erwächst eine moralische Verpflichtung: Wir dürfen die Menschen nicht im Stich lassen!“, erklärte der Bundestagspräsident zu Beginn der Debatte. “

Mit dem Anspruch, Afghanistan nach unseren Vorstellungen und Werten umzugestalten, sind wir gescheitert.“, so Wolfgang Schäuble. Einen Überblick findet Ihr hier. Wer die gesamte Debatte nachlesen will, findet auf den Bundestagsseiten ein höchst lesenswertes Wortprotokoll.

Aber wie erleben Menschen aus Afghanistan die Lage? Ich habe M.-Soleiman Badri gefragt, den ich als reflektiertes Mitglied der afghanisch-islamischen Gemeinde in Paderborn kenne. In den vergangenen Jahren ist er vielfach nach Afghanistan gereist. Zur Zeit telefoniert er täglich mit Verwandten. Ein befreundeter Journalist der aus Afghanistan geflüchtet ist, bestätigt seine Beobachtungen.

Positives stehe Negativem gegenüber: Die Sicherheitslage hat sich in letzten 2 Wochen verbessert. Die meisten Menschen können ohne Angst um ihr Leben frei durch Kabul und durch ganzes Afghanistan bewegen. Keine Straßensperren mehr, an denen Söldner, Soldaten und Polizisten die Menschen belästigen und Geld für die weitere Fahrt verlangen. Morddrohungen, Entführungen, Raubüberfälle auf Passanten und Autos haben aufgehört. Seit 2 Wochen herrsche ein ungewisser Friede im ganzen Land.

Es ist eine Momentaufnahme, weil niemand weiß, wie es weitergeht. Die Banken haben zurzeit geschlossen, Geld wird knapp, die Lebensmittelpreise explodieren. Wie geht es mit der Arbeit weiter?  Frauen trauten sich im Moment nicht mehr, in ihre Büros zu gehen. In ähnlicher Ungewissheit lebten alle, die mit westlichen Institutionen zusammengearbeitet haben. Der springende Punkt ist völlig offen: Haben sich die Taliban verändert?  Aber was sei schon Gewissheit? Die 2. und 3. Generation lebte im Krieg, kennt keinen Frieden.

Zwar habe zwei, drei Jahre nach dem Sieg der Alliierten 2002 eine Hoffnung unter den Afghanen geherrscht, dass sich das Land zum Besseren verändern würde. Große Erwartungen richteten sich auf den Westen. Aber die Verantwortlichen hätten auf das falsche Pferd gesetzt. Nach der Devise „Mache den Feind deines Feindes zum Freund“ setzte man auf fragwürdige Gauner. Besonders fatal wirkte, dass sich die westlichen Soldaten und Helfer*innen in befestigte Lager und in die Kabul-Blase zurückgezogen haben und dass bei den Kriegshandlungen mehr und mehr unschuldige Zivilisten getötet wurden.

Der Zusammenbruch des Regierungssystems über Nacht dokumentiere, wie wenig ehrlich die Administration agiert hätte. Ein Gefühl herrsche vor, exakt die Leute seien ausgeflogen worden, die über Beziehungen verfügten. Unter ihnen die, die für den Brückenschlag zu westlichen Werten stehen. Dieser Brain-Drain – ein höchst verzwicktes Dilemma.

Die westlichen Länder dürfen das afghanische Volk seinem Schicksal nicht allein überlassen. Sie sind verpflichtet, nach 20 Jahren Krieg ihre humanitäre Verantwortung weiter wahrzunehmen und dem afghanischen Volk zur Seite zu stehen. Viele Fragen stellen sich: Wurde uns 20 Jahre lang nicht die Wahrheit erzählt? Wieso haben Afghanistankenner, Geheimdienste, Militärs, Politiker… die Lage falsch eingeschätzt? Was haben die Alliierten 20 Jahrelang nicht richtig gemacht? Was können wir aus diesen Fehlern für die Zukunft als Lehre ziehen?

Das Fazit von Soleiman Badri: Umso wichtiger sei es, Gesprächsfäden zu gemäßigten Taliban zu entwickeln, die Aussagen sehr sorgfältig zu prüfen und statt geostrategisch zu taktieren, die Lage der wirklichen Menschen zu bedenken.

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