Hingabe durchkreuzt alle Systeme – sogar den Tod.

Was Karfreitag uns in der Kirche heute bedeuten kann und wie es über Ostern hinaus weist. Melanie Rems hat dies als Beitrag für den Blog empfohlen.

Eine Predigt von Pfarrer Markus Hoitz, Königswinter 2021

Meine Schwestern und Brüder im Herrn, unsere klassischen Kreuzwege kennen 14 Stationen. Bei der letzten Station wird Jesus ins Grab gelegt. Vielleicht müsste man heute eine 15te Station hinzufügen. Sie überspringt die Auferstehung und Himmelfahrt des Gekreuzigten. Die 15te Station heißt „Missbrauch“. 

Und damit meine ich nicht nur den „sexuellen Missbrauch“, denn Missbrauch fängt wesentlich früher an. Der sexuelle Missbrauch ist nur das Ende vom Lied, sozusagen die letzte Strophe. Missbrauch fängt da an, wo ich meine Wahrheit absolut setze. Da gilt dann nur meine Wahrheit und alle anderen haben sich meiner Wahrheit zu beugen. 

„Die Wahrheit wird euch frei machen“, so heißt es im Johannes-Evangelium (Joh 8, 32). Schön und gut. Aber wenn ich – z.B. als Pastor – es bin, der festlegt was die Wahrheit ist, dann ist es mit der Freiheit vorbei. Und wenn es das Lehramt der Kirche ist, das festlegt, was die Wahrheit ist, dann ist es mit der Freiheit ebenso vorbei. 

Der russische Schriftsteller Dostojewski hat in seinem Roman „Die Gebrüder Karamasow“ im Abschnitt über den Großinquisitor sehr gut beschrieben, was das für Folgen hat. Da sagt der Großinquisitor dem wiedergekehrten Christus: „Sie werden uns anstaunen und uns für Götter halten, weil wir, die wir uns an ihre Spitze stellen, uns bereit erklärt haben, die Freiheit zu ertragen, vor der sie Angst haben, und über sie zu herrschen – eine so schreckliche Empfindung wird es schließlich für sie werden, frei zu sein. Aber wir werden sagen, wir seien Dir gehorsam und herrschten in Deinem Namen. Wir werden sie wieder täuschen; denn Dich werden wir nicht mehr zu uns lassen. In dieser Täuschung wird aber auch unser Leiden liegen; denn wir werden genötigt sein zu lügen.“ 

Klerikalismus und Freiheit

Genau dieser von Dostojewski so klar beschriebene Klerikalismus ist bei Laien genauso zu finden wie beim Klerus. Es ist diese Haltung, diese Selbstsicht eines klerikalen Systems, die dem anderen die spirituelle und die leibliche Selbstbestimmung und Freiheit nimmt. Und genau diese Haltung, die bricht jetzt mit der Aufdeckung der sexuellen Missbräuche auf der einen Seite und den Vertuschungsversuchen auf der anderen Seite wie ein Kartenhaus in sich zusammen. 

Gott sei Dank! kann man da nur sagen. 

Die mit dieser klerikalen Haltung angerichteten Schäden – zunächst bei den direkten Opfern – sind nicht klein zu reden. Auch nicht mit dem Blick auf Missbrauch in der übrigen Gesellschaft. Der Schaden ist weit größer als wir es in der Kirche zu sehen bereit sind. Die abgebrannte Kathedrale „Notre Dame“ in Paris ist dafür vielleicht ein sehr schmerzhaftes aber passendes Bild: die Hütte brennt uns über dem Kopf weg und droht zusammenzustürzen. Aber im System Kirche, im Umgang mit den Menschen, in der Auseinandersetzung mit der modernen Gesellschaft ändert sich überhaupt nichts. Wir bleiben bei unserem antiken und mittelalterlichen Weltbild. Die Sorgen und Nöte der Menschen von heute – so wie es das 2. Vatikanische Konzil gefordert hatte – die interessieren uns überhaupt nicht. Uns interessiert nur, dass sie unserer Wahrheit folgen. Und wer der nicht folgt, wer kritisch nachdenkt, der hat halt Pech gehabt. 

Meine Schwestern und Brüder im Herrn, diese Haltung bricht letztendlich der Botschaft, dem Leben und Wirken des Mensch gewordenen Gottessohnes Jesus Christus das Genick. Diese Haltung bricht all denen das Genick, die versuchen glaubwürdig diese Botschaft Jesu zu leben und zu verkündigen. Sie bricht Gott selbst das Genick. 

Verrat und Verleugnung kommen von innen.

Und genau das ist Karfreitag. Das ist nicht nur damals vor über 2000 Jahren, sondern das ist heute. Und das Perfide daran ist, dass es damals wie heute die Menschen aus dem „innercircle“ sind, die Gott das Genick brechen. 

Judas Iskariot, der Jesus verraten hat. Wohl weil dieser Jesus seiner Wahrheit nicht entsprochen hat und auch nicht entsprechen wollte – einer der Täter. Und Petrus der Jesus verleugnet, obwohl er ihm Treue bis in den Tod versprochen hatte – einer der Vertuscher, der lieber die Akten verschwinden lässt, statt sich der Situation zu stellen. Beide wollen ein System retten. Oder anders gesagt: beide wollen ihre Vor- stellung vom „Reich Gottes“ retten. 

Die vier Evangelisten haben den Verräter Judas und den Verleugner Petrus nicht ohne Grund in ihre Evangelien aufgenommen. Schon damals war der Grund für den Tod Jesu nicht einfach nur die „böse und gottlose Welt draußen“. So als wollten die Evangelisten uns warnen, stellen sie den Verrat durch Judas und die Verleugnung durch Petrus in die Passion Jesu Christi hinein: Verrat und Verleugnung, die kommen von innen. 

Hingabe durchkreuzt alle Systeme – sogar den Tod.

Und wenn jetzt der alte Papst Benedikt die sexuelle Revolution der 1968er Jahre und die Aufweichung der katholischen Moraltheologie in Folge des 2. Vatikanischen Konzils für die Missbrauchsskandale verantwortlich macht, dann passiert genau dasselbe: Die Anderen sind schuld. Dass gerade die ultrakonservativen Bischöfe oder Klerikervereinigungen in die Missbrauchsskandale verwickelt sind – das passt jetzt leider gar nicht in die Argumentationskette von Josef Ratzinger. Und auch seine Sekundanten in pensionierten und doch bischöflichen Würden würden gerne weiter nach dem Motto „Tarnen, Täuschen, Verpissen“ handeln. Da stört dieser Papst Franziskus, der manchmal auch ziemlich unüberlegt was sagt, was wie ein Stich ins Hornissennest wirkt – deshalb muss der weg, weil er eben das System stört.

Und so ein System will laufen, will nach seinen Gesetzmäßigkeiten funktionieren. Sie kennen das alle vom Kegelclub oder sonstigen Vereinen her. Wenn da jemand neu hinzukommt, der Ihre Regeln und Kommunikationsweisen in Frage stellt, dann ist der auch sehr schnell wieder draußen. Dank E-Mail und Internet ist das aber auch alles sehr schnell an der Öffentlichkeit. „Tarnen, Täuschen und Verpissen“ das geht heute nicht mehr, auch nicht in der Kirche – und das ist gut so. 

Meine Schwestern und Brüder, Sie werden sich jetzt fragen, was denn unser E-Mail Verkehr mit dem Karfreitag und den Missbrauchsfällen in der Kirche zu tun haben soll. Die Antwort ist einfach. Die Medien machen sehr schnell und allen klar, wo es uns wirklich um die Botschaft Jesu Christi geht oder nur um den Selbsterhalt eines Systems. 

Der Tod Jesu Christi am Kreuz durchkreuzt diesen Wunsch nach dem Selbsterhalt eines Systems. Hingabe durchkreuzt alle menschlichen Vorstellungen. Hingabe durchkreuzt alle Systeme. Hingabe durchkreuzt sogar den Tod. 

Wahrheit und Sinn meines Lebens

Darum geht es am Karfreitag. Gottes Hingabe durchkreuzt all unsere Vorstellungen. Meine Schwestern und Brüder im Herrn, mir meine Vorstellungen durchkreuzen zu lassen, dass Gott sich nicht meinen Wahrheiten beugen muss, sondern dass ich in meiner Hingabe seine Wahrheit entdecken kann und darin Freiheit finde – das ist für mich die österliche Botschaft des Karfreitags. Ich muss nicht „meine“ Wahrheit gegen „deine“ Wahrheit verteidigen, sondern ich darf mit Dir nach unserer Wahrheit suchen. Denn in „Dir“ liegt genauso viel von der „Wahrheit“ Gottes wie in mir, weil wir beide seine Geschöpfe sind. Im „Anderen“ Gott zu entdecken, das gibt mir Lebensfreude, weil ich im anderen das finden und entdecken kann, was ich in und bei mir selbst nicht finde. Meine Wahrheit begrenzt mich nur auf mich selbst – da finde ich nichts Neues. Und dafür bin ich viel zu neugierig. Ich bin mir nicht selbst der Sinn meines Lebens. 

Wenn wir – die Priester und die Messdiener – uns am Karfreitag zu Beginn der Liturgie auf den Stufen des Altars für eine kurze Zeit einfach hinlegen, dann ist das ein liturgisches Zeichen eben dafür: 

  • Wir geben uns nicht selbst den Sinn des Lebens. 
  • Wir untergeben uns keinem System, sei es von der Kirche oder von sonst wem vorgegeben.
  • Wir legen uns nur vor dem nieder, der für uns gestorben ist. 
  • Und wir stehen dann auch wieder auf. Wir stehen auf für die, die heute ein Kreuz tragen müssen. 

Und Aufstand ist jetzt einfach auch angesagt. Ich z.B. bin persönlich angefragt, warum und wie ich in dieser Kirche überhaupt noch Priester sein kann. Ihnen wird das vielleicht nicht anders ergehen, wenn Sie sich als Kirchenmitglied outen. 

Die Evangelien berichten uns, dass der Lieblingsjünger Johannes und die Gottesmutter Maria unter dem Kreuz ausgehalten haben. Deren Situation ist ja der unsrigen vergleichbar. Alle Funktionäre haben sich verpisst und es bleiben nur noch die Liebenden übrig. Der Freund Johannes und die Mutter Maria. Und die halten einfach nur aus. 

Und das ist auch jetzt meine Haltung: ich liebe diesen Jesus Christus und ich halte aus – und ich habe in dieser Kirche schon viel auszuhalten gehabt. Aber den Systemfuzzis überlasse ich die Kirche Jesu Christi nicht – jedenfalls nicht kampflos. Und ich lege meinen priesterlichen Dienst nicht nieder und ich trete auch nicht aus der Kirche aus. Ich bleibe und störe, damit die Botschaft Jesu leben kann, damit seine Hingabe ein Gesicht behält. Sie bitte ich darum zu bleiben und da zu stören, wo es notwendig ist, damit durch uns diese Hingabe Gottes an uns für die Menschen von heute ein Gesicht bekommt. Amen. 

Anmerkung der Redaktion:
Diese Predigt als PDF und mehr von Pfarrer Markus Hoitz, Königswinter:
www.markus-hoitz.de
www.kirche-am-oelberg.de

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